Ein Heimatbuch der anderen Art
Peter Ulrich Lehner, seit Jahrzehnten als engagierter Antifaschist und Publizist aktiv sowie Mitglied des Freiheitskämpfer/innen-Bundesvorstandes, hat ein beeindruckendes Werk über seinen Heimatbezirk Hernals in der dramatischen Zeit 1933 bis 1945 verfasst. Wolfgang Neugebauer hat das Buch bereits gelesen.
Ohne Überheblichkeit kann ich mir nach Jahrzehnten Tätigkeit im DÖW das Urteil anmaßen: der Autor hat ein singuläres Werk geschaffen, wie es in dieser Art kein zweites gibt. Ich kenne keinen anderen Wiener Bezirk oder österreichischen Ort, wo Widerstand und Verfolgung so umfassend, gründlich und sorgfältig aufgearbeitet worden sind. In jahrelanger, fleißiger Arbeit hat Lehner Bücher, Zeitschriften, Archive, Websites und andere Quellen für seine Arbeit ausgewertet; insbesondere die reichhaltigen Bestände und die umfassenden Datenbanken über die NS-Opfer des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) sind eine wichtige Grundlage des Werkes.
Die nun vorliegende Arbeit kann als Handbuch für die Geschichte von Hernals von 1934 bis 1945 qualifiziert werden. Eine ausführliche, profilierte zeitge-schichtliche Einleitung stellt das Bezirksgeschehen in einen größeren zeitge-schichtlichen Rahmen. Im Mittelpunkt stehen der Widerstand gegen die herr-schenden Diktaturen und die politischen und rassistischen Verfolgungen, wobei der Autor durchaus zwischen der Repression im Austrofaschismus 1934 bis 1938 und dem massenmörderischen Terror des NS-Regimes 1938 bis 1945 differenziert. Den Kern des Werkes bilden mehr als 1.900 Biographien von WiderstandskämpferInnen und Verfolgten, die auf über 500 Seiten dargestellt werden. Diese Biographien zeigen nicht nur die ungeheure quantitative Dimension der Repressionen in diesem Wiener Arbeiterbezirk, sie tragen auch dazu bei, diese Menschen in Erinnerung zu behalten, ihre Leistungen, aber auch ihr Leid zu würdigen. Ein großer Teil der Biographien bezieht sich auf die Kämpfer des Februar 1934 sowie auf die AktivistInnen im Kampf gegen den Austrofaschismus. Bei den Biographien der WiderstandskämpferInnen gegen die NS-Diktatur wird die Bedeutung der Gruppe um die illegale Zeitschrift „Wahrheit“ sichtbar. Diese von dem slowenischen Kommunisten Karl Hudomalj initiierte Widerstandsgruppe, die sich „Anti-Hitler-Bewegung Österreichs“ nannte, war eine der wichtigsten der Jahre 1942-1944, weil es gelang, neben KommunistInnen auch SozialistInnen (wie dem nachmaligen Minister Alfred Migsch) und ehemalige Christlichsoziale sowie eine große Anzahl von „Ostarbeitern“ zu ge-meinsamen Aktivitäten zu vereinen.
Erschütternd ist die Anführung der zahlreichen Jüdinnen und Juden, die aus Hernals in KZ, Gettos und Vernichtungsstätten wie Auschwitz oder Maly Trosti-nec deportiert worden sind und von denen oft nicht viel mehr als das Datum ihrer Deportation bekannt ist. Auch Roma, wie die Familie des später als Maler hervor getretenen Karl Stojka, wurden von hier nach Auschwitz deportiert.
Durch seine langjähriger Mitwirkung im Bund sozialdemokratischer Freiheits-kämpferInnen, Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen hat Peter Ulrich Lehner nicht wenige der im Buch beschriebenen Menschen persönlich gekannt und diese Erfahrungen einfließen lassen. Es spricht für seine Fairness, dass er auch jene Personen, die ihm politisch nicht nahe stehen, in angemessener Weise darstellt. Im Personenteil kommen viele Prominente aus Politik und Kultur vor, unter anderem Bundespräsident Adolf Schärf, Vizekanzler Fritz Bock, die Bundesminister Franz Olah und Christian Broda, der legendäre ÖGB-Präsident Johann Böhm, die Schriftsteller Franz Werfel und Stefan Zweig oder die Schauspielerin Hedy Lamarr. Trotzdem ist das Werk keine Geschichte der politisch-gesellschaftlichen Elite, denn auch weniger bekannte Menschen, die Widerstand leisteten oder verfolgt wurden, werden mit der gleichen Sorgfalt beschrieben.
Neben den Biographien werden auch Orte, Verkehrsflächen, Gebäude und Parks , die nach WiderstandskämpferInnen oder Verfolgten benannt worden sind, beschrieben sowie 150 vom NS-Regime 1938 aufgelöste Hernalser Vereine aufgelistet. Ein besonders wertvoller Teil des Buches ist der hier erstmals veröffentlichte Bericht des ersten Bezirksvorstehers von Hernals 1945 Alois Brunner, der anschaulich über Widerstand, Befreiung und Wiederaufbau informiert.
Die vorliegende Publikation wird nicht nur für Hernalser Bezirksfans, sondern für alle an Zeitgeschichte und Politik Interessierte von Nutzen sein. Sie wird meines Erachtens zu einem unentbehrlichen Nachschlagewerk werden und ist auch für den Gebrauch an Schulen, z. B. als Grundlage für Schülerprojekte, durchaus geeignet. Ich kann daher dem Werk von Peter Ulrich Lehner nur die ihm zustehende Akzeptanz und Verbreitung wünschen.
Wolfgang Neugebauer
BILD:
Peter Ulrich Lehner: Verfolgung, Widerstand und Freiheitskampf in Hernals: Ereignisse, Gestalten, Orte – Ein Heimatbuch der anderen Art. Mandelbaum Verlag, Wien 2014, ISBN: 978385476-802-9, 736 Seiten, € 29,80.